• info[at]muslimische-frauen.de
  • +49(0)2236/948633

Stellungnahme zur Studie „Zwangsverheiratung in Deutschland – Anzahl und Analyse von Beratungsfällen“

Am 09. November 2011 hat die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Kristina Schröder eine von ihrem Hause in Auftrag gegebene Studie zur Zwangsverheiratung vorgestellt. Die Kurzfassung der Studie ist herunterladbar („Zwangsverheiratung in Deutschland – Anzahl und Analyse von Beratungsfällen“) und ist Grundlage der vorliegenden Stellungnahme.

Vorab sei gesagt: jede erzwungene Heirat ist eine Menschrechtsverletzung, ein Verstoß gegen geltendes Recht und muss entsprechend verfolgt werden; dabei darf es keinen „Kulturbonus“ geben.

Als muslimische Frauenorganisation nehmen wir die Verknüpfung von Zwangsheirat mit der muslimischen Religionszugehörigkeit unter dem Aspekt der wissenschaftlichen Belegbarkeit aus der Studie selbst heraus nachfolgend in den Fokus.

Während in der Pressemitteilung des BMFSFJ noch im Einklang mit der Studie kein Hinweis auf eine spezifische Affinität bestimmter religiöser Gruppen zur Zwangsheirat gegeben wird (Pressemitteilung: Neue Studie zur Zwangsheirat), ist nach der Pressekonferenz mit Bundesministerin Schröder als eines der eindeutigsten Ergebnisse in den unterschiedlichsten Medien zu lesen und zu hören:

    • Fast 2/3 der Opfer aus Zwangsehen stammen aus stark religiösen Familien
    • Mehr als 80 % der Eltern, die ihre Kinder in eine Ehe zwingen, sind Muslime

Wie wurde gemessen und was sagt die Studie tatsächlich über den Zusammenhang von Religionszugehörigkeit und Zwangsverheiratung aus? Dazu heißt es in der Studie selbst:

    • Religionszugehörigkeit ist eine so genannte „leere Variable“, die ohne Vergleichszahlen und Wissen über die tatsächliche Praktizierung nicht interpretiert werden kann. (S. 34)
    • 60 % der Anruferinnen machten Angaben zur Religionszugehörigkeit ihrer Eltern; dabei gaben 83 % den Islam an. (S. 34)
    • Die Religionszugehörigkeit wurde durch eine offene Frage erhoben (S. 35)
    • Die angewandten Erhebungsmethoden lassen nicht erkennen, „…aufgrund welcher Kriterien Personen als einer Religion zugehörig eingestuft wurden.“ (S. 35)
    • Die Zuschreibungen bestimmter Eigenschaften einer Community durch die Öffentlichkeit spielen eine Rolle bei der Zuordnung zu einer Religionsgemeinschaft. (S. 35f)
    • „Mit der gewählten Methode und anhand der Datenlage konnte und sollte also nicht überprüft werden, ob und welche Zusammenhänge die Religionszugehörigkeit/Religiosität mit Zwangsverheiratung hat.“ (S. 36)
    • „In der Forschung besteht ebenso Einigkeit darüber, dass sich Zwangsverheiratungen nicht auf bestimmte religiöse Traditionen zurückführen lassen, sie kommen in unterschiedlichen sozialen, ethnischen und kulturellen Kontexten überall auf der Welt – und auch in Europa – vor.“ (S. 9)

Insbesondere im Hinblick auf den letztgenannten Punkt zeigt die Kurzfassung der Studie damit keine anderen Ergebnisse, als die ebenfalls vom BMFSFJ schon 2007 in Auftrag gegebene und veröffentliche Untersuchung “Zwangsverheiratungen in Deutschland”. (BMFSFJ [Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend] (Hrsg.) (2007): Zwangsverheiratung in Deutschland, Konzeption und Redaktion Deutsches Institut für Menschenrechte. Baden-Baden: Nomos) (S. 14 f)

Demnach ist Zwangsverheiratung ein Phänomen, das

    • in Europa in Migrantenmillieus anzutreffen ist,
    • außerhalb Europas stark mit Armut und fehlender Infrastruktur zusammenhängt,
      • kein Kennzeichen muslimischer oder türkischer Communities ist, sondern ebenso bei italienischen Katholiken, christlichen Minderheiten in der Türkei, Yeziden, Sinti und Roma, sowie außereuropäisch in Südamerika und Asien (bei Sikhs und Hindus in größerem Ausmaß) vorkommt. (

    Zwangsverheiratungen – auch ein deutsches Problem!

      )

Die Studie zur Zwangsverheiratung von 2007 stellt daher die Frage zur Diskussion, „…ob man Zwangsverheiratung eher in den Kontext der Migrations- und Integrationsdebatte stellen sollte oder ob sie eher im allgemeinen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang innerfamiliärer Gewalt und insbesondere der Gewalt gegen Frauen verortet werden soll…“ bzw. möglicherweise beide Perspektiven verbunden werden sollten. Auf die Gefahr, dass insbesondere Muslime durch die Debatte stigmatisiert werden können, wird hingewiesen. „Die Herausforderung besteht darin, Zwangsverheiratung klar als Menschenrechtsverletzung anzuspre­chen und zugleich dafür zu sorgen, dass dadurch nicht Vorurteilen gegenüber Minderheiten Vorschub geleistet wird. Dies setzt die Bereitschaft zur präzisen Ana­lyse voraus.“ (BMFSFJ [Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend] (Hrsg.) (2007): Zwangsverheiratung in Deutschland, Konzeption und Redaktion Deutsches Institut für Menschenrechte. Baden-Baden: Nomos) (S. 14 f)

An dieser Herausforderung ist Frau Bundesministerin Schröder bisher leider gescheitert.

Aus unserer Sicht ist es notwendig die Strukturen, die Gewalt gegen Frauen begünstigen, wirksam zu bekämpfen.

Dazu zählt

    • die Analyse der strukturellen und politischen Rahmenbedingungen, die, unabhängig von der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit Gewalt fördernde Lebenssituationen verfestigen,
    • die vehemente Bekämpfung der Diskriminierung von Frauen, speziell von Migrantinnen auf dem Arbeitsmarkt. Wirtschaftlich selbständige Frauen können repressive Strukturen einfacher verlassen als wirtschaftlich abhängige Frauen,
    • die Erarbeitung passgenauer Hilfen, die eine differenzierte Betrachtung der unterschiedlichen Lebenssituationen der von Gewalt und Zwangsheirat Betroffenen voraussetzt,
    • die Klarstellung, dass ethnische oder religiöse Gruppen keine monolithischen Blöcke sind und die Mehrheit der Frauen dieser Gruppen von der Gewaltproblematik nicht betroffen ist,
      • die Klarstellung, dass auch Frauen der Mehrheitsgesellschaft in nicht unerheblichem Umfang in ihren Grundrechten hinsichtlich ihrer körperlichen Integrität durch ihre Partner verletzt werden. (Studie „

    Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen

      „)
    • die Klarstellung, dass – wie auch immer legitimierte – Menschenrechtsverletzungen nicht hingenommen werden, sondern rechtliche Konsequenzen haben und die entsprechende zeitnahe Umsetzung dieser Konsequenzen,
    • die Aufklärung insbesondere von Jugendlichen hinsichtlich der rechtlichen Situation
    • im Hinblick auf die im Fokus stehenden Muslime: die Einführung des von muslimischer Seite schon seit Jahrzehnten geforderten islamischen Religionsunterrichts, in dessen Rahmen Kinder lernen, dass eine Ehe, die auf Zwang basiert, keine religiöse Grundlage hat, sondern gegen die Religion verstößt.

Wir gehen davon aus, dass der Zeitpunkt zur Vorstellung der Studie schon länger feststand, kommen aber nicht umhin zu bemerken, dass die Präsentation dieses Thema direkt im Anschluss an die aus unserer Sicht sehr schwache Position von Frau Bundesministerin Schröder in der Diskussion um die Erhöhung der Frauenquote in hohen Wirtschaftspositionen einen leichten Beigeschmack hat.

Der Blick auf die von Zwangsverheiratung Betroffenen lenkt für einige Zeit davon ab, dass sich viele Frauen in dieser Gesellschaft mit diversen Problemen auseinandersetzen müssen: angefangen von der Tatsache, dass das Geschlecht nach wie vor das häufigste Kriterium bei der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt ist, über ungleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit, die Doppelbelastung durch ungleich verteilte Familien- und Pflegearbeit, die Armut von alleinerziehenden Müttern, die Altersarmut von Frauen, die schlechtere gesundheitliche Versorgung von Frauen usw.

Diese Themen lassen sich allerdings nicht medienwirksam darbieten und eignen sich auch nicht zum Aufpolieren des eigenen Selbstbildes im Spiegel des „Anderen“.

Frauenrechte sind Menschenrechte, sie durchzusetzen ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Eine Stigmatisierung bestimmter Gruppen ist kontraproduktiv, fördert die Ausgrenzung und kann denjenigen, deren Rechte verletzt werden, keine Hilfe bieten.

Nur gemeinsam können wir der verabscheuungswürdigen Praxis der Zwangsverheiratung entgegenwirken.

Wesseling, 10. November 2011

(PDF ansehen)

Siehe ergänzend:
Familienministerin Schröder stellt ihre eigene Studie auf den Kopf

Ehen unter Zwang sind im Islam ungültig

Skip to content