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Ein pauschales Kopftuchverbot für Erzieherinnen in öffentlichen KiTa-Einrichtungen ist nicht zulässig

Das Bundesverfassungsgericht wertet ein pauschales Kopftuchverbot für Erzieherinnen in öffentlichen Kindertagesbetreuungseinrichtungen als unverhältnismäßigen Eingriff in die Religionsfreiheit. Die Argumentation folgt der 2015 ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Kopftuch im Schuldienst.

Nach dem Beschluss der Zweiten Kammer des Ersten Senats vom 18. Oktober 2016[1] ergibt sich folgende Rechtslage:

1. Der Schutz der Glaubensfreiheit gilt auch für Erzieherinnen und Erzieher, die in Einrichtungen öffentlicher Träger arbeiten.

„Der Schutz des Grundrechts auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs 1 und 2 GG) gewährleistet auch Erzieherinnen und Erziehern in Kindertageseinrichtungen in öffentlicher Trägerschaft die Freiheit, den Regeln ihres Glaubens gemäß einem religiösen Bedeckungsgebot zu genügen […].“[2]

2. Ein Kopftuchverbot aufgrund der Annahme einer „abstrakten“ Gefahr ist nicht zulässig.

Das BVerfG stellte fest, dass die Arbeitsgerichte bei der Auslegung der Verbotsnorm in § 7 Abs. 6 und 7 des baden-württembergischen Kindertagesbetreuungsgesetzes (KiTaG) die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Klägerin unrichtig eingeschätzt haben[3] und ein pauschales Verbot einen unverhältnismäßigen und damit unzulässigen Eingriff in die Glaubensfreiheit darstellt.

„Ein Verbot religiöser Bekundungen […], namentlich das Tragen religiös konnotierter Kleidung, schon wegen der bloß abstrakten Eignung zu einer Gefährdung des Einrichtungsfriedens oder der Neutralität des Trägers in öffentlichen Kindertagesstätten erweist sich […] als unverhältnismäßig im engeren Sinne, wenn dieses Verhalten nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist. […] Ein angemessener […] Ausgleich […] erfordert […] eine einschränkende Auslegung der Verbotsnorm dergestalt, dass zumindest eine hinreichend konkrete Gefahr für die Schutzgüter vorliegen muss […].“[4]

Die negative Glaubensfreiheit der KiTa-Kinder wird nicht beeinträchtigt. Das Recht auf negative Religionsfreiheit erschöpft sich darin, Riten eines nicht geteilten Glaubens fernbleiben zu können, erstreckt sich aber nicht darauf, vor religiösen Symbolen oder dem Anblick religiös konnotierter Bekleidung verschont zu bleiben.[5]

Das Kopftuch oder eine andere religiös konnotierte Bekleidung beeinträchtigt die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der KiTa-Kinder nicht, „[…] solange die Erzieherinnen nicht […] verbal für ihre Position oder für ihren Glauben werben und die von ihnen betreuten Kinder über ihr Auftreten hinausgehend zu beeinflussen versuchen […].“[6] Der Anblick von kopftuchtragenden Erzieherinnen als Resultat der gelebten positiven Glaubensfreiheit

spiegelt die religiös-pluralistische Gesellschaft wieder und wird relativiert und ausgeglichen durch die Existenz von Erzieher:innen mit anderem Glauben/anderen Weltanschauungen.[7]

Das Grundrecht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder wird nicht beeinträchtigt, denn aus dem Elterngrundrecht lässt sich kein Anspruch herleiten, „[…] die Kindergartenkinder vom Einfluss solcher Erzieherinnen fernzuhalten, die einer verbreiteten religiösen Bedeckungsregel folgen, […] soweit dadurch die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Kinder nicht beeinträchtigt wird.“[8]

Das Recht der Eltern auf negative Glaubensfreiheit umfasst nicht das Recht, vom Anblick religiös konnotierter Bekleidung des Erziehungspersonals, die lediglich auf die Religionszugehörigkeit schließen lässt, verschont zu bleiben. „Das gilt […] gerade deshalb, weil nicht ein dem Staat zurechenbares glaubensgeleitetes Verhalten in Rede steht, sondern eine erkennbar individuelle Grundrechtsausübung […].“[9]

Die Sorge vor einer möglichen Beeinflussung der KiTa-Kinder oder vor Konflikten mit Eltern und einer daraus möglicherweise entstehenden Störung des Einrichtungsfriedens, hat „[…]nicht so großes Gewicht, als dass ein Verbot bereits aufgrund einer abstrakten Gefahr gerechtfertigt wäre, wenn die Bekleidung aufgrund eines imperativ verstandenen religiösen Gebotes getragen wird.“[10]

Das religiöse und weltanschauliche Neutralitätsgebot des Staates kann sichim KiTa-Bereich – anders als in der Schule – nicht auf den staatlichen Erziehungsauftrag (Art. 7 Abs. 1 GG) beziehen; es besteht keine Verpflichtung zum Besuch einer KiTa und es existiert eine große Bandbreite an alternativen Betreuungsangeboten unterschiedlichster Träger einschließlich privater Initiativen. Die entscheidende Frage ist „[…] ob das in Frage stehende Zeichen auf Veranlassung des Einrichtungsträgers oder aufgrund einer eigenen Entscheidung einzelner Erzieherinnen oder Erzieher verwendet wird, die hierfür das individuelle Freiheitsrecht des Art. 4 Abs. 2 und 2 GG in Anspruch nehmen können. Der staatliche Einrichtungsträger, der eine mit dem Tragen eines Kopftuchs verbundene religiöse Aussage einer einzelnen Erzieherin hinnimmt, macht diese Aussage nicht schon dadurch zu seiner eigenen und muss sie sich auch nicht als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen […].“[11]

Auch wenn der Beschluss hinsichtlich des KiTa-Gesetzes in Baden-Württemberg erging, sind doch die anderen Landesgesetzgeber über § 31 Abs. 1 BVerfGG daran gebunden, ihre jeweiligen Gesetze nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts auszulegen. Das bedeutet: Bewerberinnen dürfen nicht mehr aufgrund ihres Kopftuches abgelehnt werden.

Wesseling, den 02. Dezember 2016


[1] Az. 1 Bv R 354/11 http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2016/10/rk20161018_1bvr035411.html  

[2] Ebenda, Rn. 57.

[3] Ebenda, Rn. 53.

[4] Ebenda, Rn. 61.

[5] Ebenda, Rn. 64.

[6] Ebenda, Rn. 65.

[7] Ebenda.

[8] Ebenda, Rn. 66.

[9] Ebenda.

[10] Ebenda, Rn. 63.

[11] Ebenda, Rn. 65.

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