Burkini-Urteil: Anziehen und Ausziehen – von Fall zu Fall
Zwei Rechte mit Verfassungsrang im Clinch – am 11. September entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass ein muslimisches Mädchen am koedukativen Schwimmunterricht teilnehmen muss. Hier lohnt sich ein Blick auf das Gesamtbild.
Das schriftliche Urteil liegt zwar noch nicht vor, aber aus der Pressemeldung des Gerichts lässt sich ableiten, dass die Richter der Argumentation der Vorinstanz folgten. Demnach wird seitens des Gerichts zwar ein Grundrechtseingriff zulasten der Schülerin gesehen, dieser sei jedoch nicht so schwerwiegend, dass er zur Befreiung vom gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht führe.1
Die überwiegende Mehrheit der Kommentatoren des Urteils ist der Auffassung, dass das Schwimmen mit Burkini ein akzeptabler Kompromiss zweier zuvor unvereinbarer Positionen ist. Dennoch hat das Urteil für viele Muslime einen bitteren Beigeschmack, dessen Ursache man erst erkennen kann, wenn man einen Schritt zurücktritt und sich den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang anschaut, vor dem sich die Burkini-Szene abspielt.
Grundsätzliche Zustimmung findet sicherlich die Vorstellung, dass ein als gerecht empfundener Kompromiss voraussetzt, dass beide Seiten sich in etwa gleich weit von ihren ursprünglichen Positionen aufeinander zubewegt haben. Doch ist das tatsächlich der Fall?
Das hessische Schulgesetz sieht – so, wie die Schulgesetze anderer Bundesländer auch – vor, dass ein geschlechtergetrennter Unterrichtung zeitweise möglich ist,2 sofern dies pädagogisch sinnvoll erscheint. Allerdings ist man in Hessen – anders als in anderen Bundesländern – der Auffassung, dass dies nicht für den Sportunterricht gelten kann, denn hier diene eine Geschlechtertrennung nicht der Verwirklichung der Gleichberechtigung von Jungen und Mädchen und nur aus diesem Grund könne es eine zeitweilige Trennung geben.3 Diese auf einen engen Ausschnitt des schulischen Lebens beschränkte starre Haltung wurde seitens der Schule auch dann noch beibehalten, als diese Belastungssituation die Schülerin krank machte.4 Das zeugt nicht gerade von pädagogischem Weitblick und Verantwortungsbewusstsein für eine Schutzbefohlene und es darf auch bezweifelt werden, ob der vermeintlich wohlmeinende Druck zur Integration zum erhofften Resultat führen wird. Für die betroffene Schülerin dürfte das Schlagwort von der (sexuellen) Selbstbestimmung der Frau jedenfalls zukünftig vermutlich eher verlogen klingen, denn die Grenze dessen, was sie von sich selbst zeigen und von anderen sehen wollte, zog nicht sie selbst, sondern das taten andere für sie.
Das Gericht selbst fragte – Beobachtern zufolge – zwar danach, ob durch einen geschlechtergetrennten Unterricht Konflikte verhindern werden könnten, sah sich allerdings nicht in der Lage, der Schule eine solche Organisation vorzuschreiben.
Fazit: Die Schule konnte auf ihrer Position verharren, musste weder über andere Lösungen nachdenken noch argumentieren, warum sie nicht möglich waren, die Klägerin dagegen musste von ihrer Position abrücken, letztendlich eine Bekleidung tragen, durch die sie eine Diskriminierung befürchtete und sich sagen lassen, dass der verbleibende Gewissenskonflikt – sei er nun für Dritte nachvollziehbar oder nicht – so gering sei, dass er in der Konsequenz ignoriert werden könne. Unter Kompromissen versteht man gemeinhin etwas anderes.
Auch in diesem Verfahren wird wieder deutlich, wie wenig die Diskrepanz zwischen dem Fantasiebild einer Gesellschaft, in der Migranten alle Freiheiten genießen und dem tatsächlichen Alltag, wahrgenommen wird – auch von maßgeblichen Akteuren nicht.
Und so behauptet der Hessische Verwaltungsgerichtshof unverdrossen, der Burkini sei auch in Deutschland so normal, dass die Trägerin einer solchen Schwimmbekleidung keine Diskriminierung befürchten müsse,3 während gleichzeitig etliche Fälle bekannt sind, in denen Frauen mit Burkini öffentlicher Bäder verwiesen werden.
Ebenso vertritt eine überwältigende Mehrheit der Gesellschaft die Überzeugung, die Teilnahme am geschlechtergemischten Schwimmen sei ein unumstößlicher, nicht diskutierbarer und vor allem unverzichtbarer Grundpfeiler der schulischen Bildung und der Integration, während gleichzeitig niemandem unbekannt sein dürfte, dass in vielen Bundesländern eine Trennung nach Geschlechtern im Sportunterricht gang und gäbe ist. Auch die Existenz von bundesweit schätzungsweise über 100 Jungen- und Mädchenschulen staatlicher und konfessioneller Träger, in denen die Geschlechtertrennung sich nicht auf zwei Stunden in der Woche beschränkt, sondern über Jahre hinweg durchgängig praktiziert wird, wird in der Diskussion geflissentlich völlig ignoriert.
Doch damit nicht genug. Städtische Schulträger, die eigentlich dazu verpflichtet sind, alle Mittel bereitzustellen, um den Schwimmunterricht zu gewährleisten, sorgen in vielen Fällen nicht dafür, dass ausreichend geschultes Personal vorhanden ist und wandeln aus rein ökonomischen Erwägungen Bäder in Spaßbäder um und verzichten dann achselzuckend auf viele Stunden schulischen Schwimmunterrichts.
Auch das Argument, dass das geschlechtergemischte Schwimmen unerlässlich ist, damit die gesellschaftliche Wirklichkeit in den Schulalltag transportiert werden kann, die Schüler dadurch den Umgang mit Vielfalt, die Achtung Andersdenkender und die Entwicklung von Toleranz und damit Konfliktfähigkeit lernen sollen, ist mehr als fadenscheinig.5 Abgesehen davon, dass die logische Konsequenz dieses Dogmas ist, dass Absolventen reiner Mädchen- und Jungenschulen an einem eklatanten Mangel dieser Fähigkeiten leiden müssten, fragen sich nicht nur Muslime, wieso diese Vielfalt offensichtlich nur dann förderlich ist, wenn sie ausschließlich auf Schülerseite existiert. Mädchen und Jungen sehen, wie das Gericht richtig bemerkt, auch auf den Straßen leicht bekleidete Menschen anderen Geschlechts, deren Anblick sie dann im Schwimmbad eigentlich nicht mehr erschüttern dürfte. Sie sehen allerdings auch Frauen mit Kopftüchern. Deren Anblick soll ihnen jedoch nicht nur in Hessen in der Schule erspart bleiben, jedenfalls dann, wenn es sich um pädagogisches und nicht um Reinigungspersonal handelt.
Das Bundesamt für Migration erklärt die Teilnahme an Sportangeboten zu einem der Bereiche, in dem Integration durch gemeinsame Aktivitäten mühelos gelingen soll, während in der Zeitung zu lesen ist, dass Frauen mit Kopftuch mancherorts keinen Zutritt zu VHS-Sportkursen erhalten und ein Gericht entscheidet, dass ein Fitnessstudio ein Kopftuchverbot verhängen darf.
So wird von einer Muslima in der einen Situation verlangt, etwas anzuziehen, das sie nicht will und in einer anderen, das auszuziehen, was sie anbehalten möchte. Zur Teilnahme an der einen sportlichen Ertüchtigung wird sie gezwungen, von der anderen ausgeschlossen.
Die freundliche Interpretation dieser schizophrenen Situation ist: Es wohnen scheinbar zwei Seelen in der Brust „der Deutschen“, die unfreundliche, aber vielleicht häufigste ist: WIR bestimmen, wo es lang geht und zwar von Fall zu Fall so, wie es UNS passt. Letzteren Eindruck verstärkt im Übrigen auch das Statement der Schulleiterin der Klägerin im ZDF: Sie wolle etwas durchsetzen, wozu sich die Klägerin per Schulvertrag verpflichtet habe, es jetzt aber verweigere.
Dass die Unterzeichnung eines solchen – mittlerweile an vielen Schulen üblichen – Schulvertrages die Voraussetzung ist, überhaupt eine Chance zur Aufnahme an der Schule zu haben, wird natürlich verschwiegen – ein Schelm, wem dazu das Wort „Knebelvertrag“ einfällt.
Vor diesem Hintergrund ist für viele Muslime das Burkini-Urteil daher nur eine Szene, die sich innerhalb des viel größeren Theaterstücks mit dem Titel „Integration ist gut, Assimilation ist besser“ abspielt. Ob dieses Theaterstück, das bisher je nach gerade aktiven Protagonisten und herrschendem Thema mal als Drama und mal als Posse daherkommt, irgendwann einmal ein Happy-End haben wird, steht in den Sternen.
1. Es ist davon auszugehen, dass die Argumentation der Vorinstanz übernommen wurde: Der Eingriff in das Grundrecht könne in zwei Aspekte zerlegt werden: Das Recht auf Bedeckung des eigenen Körpers einerseits und das Recht auf Verschonung von Anblicken von bzw. Berührung durch Dritte andererseits. Der erste Anspruch sei durch das Tragen des Burkinis erfüllt und der zweite Anspruch könne durch organisatorische Maßnahmen so weit erfüllt werden, dass in der Gesamtschau der Eingriff in Abwägung mit dem schulischen Bildungsauftrag hinzunehmen sei. Einen Gesamtüberblick über die Entwicklung der Rechtsprechung zum Schwimmunterricht ist hier zu finden.
2. § 3 Abs. 4 Satz 3 HSchG.
3. Vgl. Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes vom 28.09.2011, Az: 7 A 1590/12.
4. Ebenda. Ein Untersuchungsbericht des Klinikums der Johann Wolfgang Goethe-Universität attestiert der Klägerin eine depressive Verarbeitung der bestehenden Belastungssituation.
5. Ebenda.
Auch erschienen auf Migazin.de:
http://www.migazin.de/2013/09/17/schwimmunterricht-burkini-kopftuch-muslime-anziehen-ausziehen/print/