Kurzanalyse des Bundesverfassungsgerichtsbeschlusses zum Kopftuchverbot im Schuldienst 2015
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- Zuletzt aktualisiert 13. Oktober 2022
Kurzanalyse des Bundesverfassungsgerichtsbeschlusses zum Kopftuchverbot im Schuldienst 2015
Nach dem Beschluss des Ersten Senats vom 27. Januar 2015[1] ergibt sich folgende Rechtslage im Schuldienst:
- Die Privilegierung christlicher und jüdischer Zeichen ist nichtig, d.h. sie gilt ab sofort nicht mehr. Das ist (nach § 31 Abs. 2 BVerfGG) der Fall, ohne dass die jeweiligen Landesgesetzgeber dies erst ausdrücklich beschließen müssen.[2] Im Umkehrschluss bedeutet das: alle religiösen Zeichen sind jetzt gleichermaßen erlaubt, also Kopftuch, Kippa und Nonnentracht (oder sonstige religiösen Zeichen). Schon das Urteil von 2003 hatte vorgeschrieben, dass im Falle eines Verbots religiöser Zeichen alle Religionen gleich behandelt werden müssen. Die Gesetzgeber u.a. in NRW, Baden-Württemberg und Bayern hatten diese Vorschrift in ihren Verbotsgesetzen jedoch absichtlich missachtet und eine Privilegierung christlicher und jüdischer „Kulturwerte“ festgeschrieben.
- Ein Kopftuchverbot aufgrund der Annahme einer "abstrakten" Gefahr ist nicht zulässig. Schon 2003 hatte das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, dass die Bedeutung des Kopftuches nicht auf ein Zeichen der Unterdrückung reduziert und festgeschrieben werden darf. An diese Vorgabe hat sich der Gesetzgeber (u.a. in NRW) nicht gehalten; entsprechend basierte das Verbot des Kopftuches auf der bloßen Möglichkeit, dass ein „objektiver Betrachter“ meinen könnte, eine Lehrerin mit Kopftuch stehe nicht auf dem Boden der Verfassung und dies störe den Schulfrieden. Das Bundesverfassungsgericht stellte jetzt klar, dass sich eine solche pauschale Schlussfolgerung verbietet.[3] Das bisherige Gesetz war daher ein unverhältnismäßiger und damit unzulässiger Eingriff in die Glaubensfreiheit der Lehrerin.
Die negative Glaubensfreiheit der Schüler:innen wird nicht beeinträchtigt, „Solange die Lehrkräfte [...] nicht verbal für ihre Position oder für ihren Glauben werben und die Schülerinnen und Schüler über ihr Auftreten hinausgehend zu beeinflussen versuchen [...].“[4]
Das Grundrecht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder wird nicht beeinträchtigt, denn aus dem Elterngrundrecht lässt sich kein Anspruch herleiten, Schulkinder vom Einfluss solcher Lehrkräfte fernzuhalten, die einer verbreiteten religiösen Bedeckungsregel folgen, wenn die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Schülerinnen und Schüler nicht beeinträchtigt wird.[5]
Das Recht der Eltern auf negative Glaubensfreiheit „[...] garantiert keine Verschonung von der Konfrontation mit religiös konnotierter Bekleidung von Lehrkräften, die nur den Schluss auf die Zugehörigkeit zu einer anderen Religion oder Weltanschauung zulässt, von der aber sonst kein gezielter beeinflussender Effekt ausgeht.“[6]
Die religiöse und weltanschauliche Neutralitätspflicht des Staates wird bewahrt, indem er Bezüge zu allen mit dem Grundgesetz zu vereinbarenden Religionen und Weltanschauungen bei der Gestaltung der öffentlichen Schule zulässt.[7] Die Zulassung des Kopftuches bedeutet keine Identifizierung des Staates mit einem bestimmten Glauben.[8]
Die Sorge von Eltern vor einer ungewollten Beeinflussung ihrer Kinder durch den Anblick einer Kopftuch tragenden Lehrerin stellt keine konkrete Gefahr dar, denn die Konfrontation der Schüler:innen mit einer glaubensgemäßen Bekleidung wird [...] durch das Auftreten anderer Lehrkräfte mit anderem Glauben oder anderer Weltanschauung in aller Regel relativiert und ausgeglichen [...] Insofern spiegelt sich in der bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule die religiös-pluralistische Gesellschaft wider.“[9]
Ein Verbot, das auf eine einzelne Kopftuch tragende Lehrerin zielt, ist nur dann zulässig, wenn diese ein missionarisches oder verbal werbendes Verhalten an den Tag legt und versucht, Schüler konkret zu beeinflussen.[10]
Ein allgemeineres Verbot für bestimmte Schulen oder Schulbezirke für eine begrenzte Zeit ist möglich, wenn dort nachweislich besondere substantielle Konfliktlagen in einer beachtlichen Zahl von Fällen vorliegen.[11] Das Gericht nennt als Beispiel eine Situation, „[...] in der – insbesondere von älteren Schülern oder Eltern – über die Frage des richtigen religiösen Verhaltens sehr kontroverse Positionen mit Nachdruck vertreten und [...] in die Schule hineingetragen [...]“[12] werden.
Wenn die Schulleitung alle pädagogischen Maßnahmen, die üblicherweise bei Schulkonflikten zur Lösung zum Einsatz kommen, erfolglos ergriffen hat und zu dem Schluss kommt, dass nur die Versetzung der Lehrerin mit Kopftuch den Konflikt - zu dem sie nicht selbst etwas beigetragen hat - lösen wird, ist der Lehrerin eine Versetzung zumutbar.
Auch wenn der Beschluss hinsichtlich Punkt 2 in erster Linie für NRW gilt, sind doch die anderen Landesgesetzgeber über § 31 Abs. 1 BVerfGG daran gebunden ihre jeweiligen Gesetze nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts auszulegen. Das bedeutet: Bewerberinnen dürfen nicht mehr aufgrund ihres Kopftuches abgelehnt werden.
Wesseling, den 24. April 2015
[1] Az. 1 Bv R 471/10 und 1 BvR 1181/10 http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2015/01/rs20150127_1bvr047110.html
[2] Bundesverfassungsgerichtsgesetz § 31
(1) Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden.
(2) In den Fällen des § 13 Nr. 6, 6a, 11, 12 und 14 hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Gesetzeskraft. Das gilt auch in den Fällen des § 13 Nr. 8a, [Verfassungsbeschwerden] wenn das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz als mit dem Grundgesetz vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig erklärt. [...]. http://dejure.org/gesetze/BVerfGG/31.html
[3] Beschluss des BVerfG, Rn 118.
[4] Beschluss des BVerfG, Rn 105.
[5] Beschluss des BVerfG, Rn 107.
[6] Ebd.
[7] Beschluss des BVerfG, Rn 111.
[8] Beschluss des BVerfG, Rn 112: „[...] Denn mit dem Tragen eines Kopftuchs durch einzelne Pädagoginnen ist - anders als dies beim staatlich verantworteten Kreuz oder Kruzifix im Schulzimmer der Fall ist (vgl. BVerfGE 93, 1 <15 ff.>) - keine Identifizierung des Staates mit einem bestimmten Glauben verbunden. Auch eine Wertung in dem Sinne, dass das glaubensgeleitete Verhalten der Pädagoginnen schulseits als vorbildhaft angesehen und schon deshalb der Schulfrieden oder die staatliche Neutralität gefährdet oder gestört werden könnte, ist einer entsprechenden Duldung durch den Dienstherrn nicht beizulegen. [...]“.
[9] Beschluss des BVerfG, ebd.
[10] Zur Abgrenzung von „abstrakter“ und „konkreter“ Gefahr vgl.: Neureither, Georg: Über Kopftücher, Segelanweisungen und das Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort und vor dem falschen Senat zu sein, VerfBlog, 2015/3/20, http://www.verfassungsblog.de/ueber-kopftuecher-segelanweisungen-und-das-pech-zur-falschen-zeit-am-falschen-ort-und-vor-dem-falschen-senat-zu-sein/
[11] Beschluss des BVerfG, Rn. 114.
[12] Beschluss des BVerfG, Rn 113.