Stellungnahme zur aktuellen Diskussion um ein Kopftuchverbot für Schülerinnen
Thilo Sarrazins „Initialzündung“ hat Gespenster aufgescheucht, von deren endgültigem Verschwinden wir schon überzeugt gewesen waren. Es ist erschütternd, wie unwidersprochen etliche selbsternannte KämpferInnen gegen eine in ihren Augen drohende Islamisierung durch ihre emotional aufgeladenen und fachlich nicht belegbaren Thesen tatsächlich nur gegen eines in Stellung gehen: gegen das Grundgesetz. Hier ist offensichtlich dringend Aufklärung notwendig.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich 2003 (2 BvR 1436/02) ausführlich mit dem Thema Kopftuch befasst und in diesem Zusammenhang auch die Begriffe „Religionsfreiheit, Säkularer Staat, Staatliche Neutralität“ und „Negative Religionsfreiheit“ definiert.(1)
Demnach ist die Religionsfreiheit ein umfassendes einheitliches Grundrecht. Es umfasst die
- innere Freiheit zu glauben oder auch nicht
- äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten
- Freiheit, sein gesamtes Verhalten danach auszurichten
- Freiheit, der Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln
Zum Kopftuch wird ausgeführt:
- Die allgemeine Religionsfreiheit impliziert das Recht zum Tragen eines Kopftuches.
- Diese Freiheit hängt nicht davon ab, ob andere (Staat oder Mehrheitsgesellschaft) dies nachvollziehen können oder als nicht vorgeschrieben interpretieren.
- Das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft muss in Betracht gezogen werden.
- Eine Verpflichtung zum Tragen eines Kopftuches lässt sich als islamisch-religiös begründete Glaubensregel dem Schutzbereich des Art. 4 plausibel zuordnen.
- Das Kopftuch ist – anders als das christliche Kreuz – nicht aus sich heraus ein religiöses Symbol (erst im Zusammenhang mit der Person, die es trägt und mit deren sonstigem Verhalten kann es eine vergleichbare Wirkung entfalten.)
- Angesichts der Vielfalt der Motive der Kopftuchträgerinnen darf es nicht auf ein Zeichen gesellschaftlicher Unterdrückung der Frau verkürzt werden.
Aufgrund dieser Gesetzeslage hat die Deutsche Islamkonferenz in einer Handreichung zu Schulfragen deutlich gemacht: „In Ausübung ihrer Religionsfreiheit steht es Schülerinnen und Schülern an öffentlichen Schulen frei, Zeichen ihrer Religionszugehörigkeit zu tragen oder sich religiösen Vorschriften gemäß zu kleiden. Das Tragen des Kopftuches kann daher nicht in Schulordnungen, Elternverträgen o.
ä. untersagt werden.“ (2)
Zur Frage, was ein säkularer Staat ist und unter staatlicher Neutralität zu verstehen ist, nimmt das Bundesverfassungsgericht wie folgt Stellung:
Der Staat ist die Heimstatt aller Staatsbürger und hat die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität, d.h.
- Offenheit gegenüber der Vielfalt von Überzeugungen
- keine Privilegierung bestimmter Bekenntnisse
- keine Ausgrenzung Andersgläubiger
- keine staatliche Identifikation mit bestimmten Religionsgemeinschaften
- keine Bewertung des Glaubens und der Lehre der Religionsgemeinschaften
Neutralität meint also:
der Staat darf keine gezielte Beeinflussung in Richtung einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben, um den religiösen Frieden in einer Gesellschaft nicht von sich aus zu gefährden.
Grundlage dieses Staatsverständnisses ist die Würde des Menschen und die freie Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung.
Allerdings – und das ist eine Spezialität des deutschen Staatsrechts im Vergleich zu Ländern mit einer laizistischen Verfassung, wie z.B. der Türkei und Frankreich -, gibt es folgendes zu beachten:
- „Die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität ist indes nicht als
eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche,
sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle
Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen.“(1)
Vor diesem Hintergrund werden in Deutschland z.B. auch Bischöfe aus Steuergeldern bezahlt, ebenso wie kirchliche Kindergärten und Schulen (zu mehr als 90 % – auch aus Steuergeldern von Nicht-Kirchenmitgliedern), der Staat finanziert theologische Fakultäten zur Ausbildung von Priestern, es gibt Religionsunterricht von staatlichen bezahlten Lehrern an staatlichen Schulen.
Auch die negative Religionsfreiheit wird vom Bundesverfassungsgericht definiert.
Es ist die:
- Entscheidungsfreiheit, welche religiösen Symbole man anerkennt und verehrt oder ablehnt
- Sie impliziert nicht das Recht von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben.
Jeder muss also den Anblick von Frauen mit Kopftüchern, Sikhs mit Turbanen, orthodoxen Juden mit Kippa, Fronleichnamsprozessionen und Glockengeläut ertragen.
Eine Ausnahme bildet eine vom Staat geschaffene Lage, in welcher der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeit dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen dieser sich manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist. Das betrifft nach derzeitiger Rechtsprechung staatliche
Pflichtschulen (nicht Privatschulen) bis zur 10. Klasse, nicht jedoch das Alltagsleben außerhalb von Institutionen, zu deren Besuch man nicht verpflichtet ist.
Bei einem Kopftuchverbot für Schülerinnen wäre auch das grundgesetzlich garantierte Recht der Eltern auf Erziehung tangiert – darauf weist die schon zitierte Handreichung zu Schulfragen ausdrücklich hin. Darin heißt es:
- „Das elterliche Erziehungsrecht vor Eintritt der Religionsmündigkeit umfasst nach Art. 6 GG grundsätzlich auch die Befugnis, die Bekleidung ihrer Kinder zu bestimmen. Insofern könnten Eltern ihre Töchter vor Eintritt der Religionsmündigkeit und auch vor der Pubertät zum Tragen des Kopftuches anhalten, wenngleich das Tragen des Kopftuches nach ganz überwiegender islamischer Auffassung vor Eintritt der Pubertät religiös nicht geboten ist.“(2)
Fazit:
Wenn über Kopftuchverbote für Schülerinnen oder generelle Kopftuchverbote in der Öffentlichkeit diskutiert wird, sollte klar sein, dass dies nur über die Änderung des Grundgesetzes möglich ist, und zwar:
- entweder in Form des Verbotes aller religiösen Äußerungen im öffentlichen Raum, d.h. Kreuze oder Kippas dürfen nicht mehr getragen werden, keine Kirche darf zur Messe läuten, keine Prozessionen stattfinden, Wegkreuze müssen entfernt werden usw. oder
- durch die tatsächliche Trennung von Kirche und Staat, d.h.: Abschaffung des christlichen Religionsunterrichts, der konfessionellen Kindergärten, Krankenhäuser und Schulen, keine Zuschüsse für christliche Wohlfahrtsverbände, mit all ihren angegliederten Beratungsstellen usw. oder
- durch Einführung einer bundesweit einheitlichen Kleiderordnung, die Kopfbedeckungen aller Art (und damit ein Ausweichen der Kopftuchträgerinnen auf evtl. Baskenmützen oder ähnliches) verbietet. Hier dürfte es allerdings Probleme mit Art. 1 GG geben.
Der Rahmen, den das Grundgesetz vorgibt, ist also klar und deutlich. Jeder, der sich aus diesem Rahmen herausbewegt und „Grundrechte light“ für Minderheiten anstrebt, hat den Rahmen der freiheitlich demokratischen Grundordnung verlassen.
Jeder einzelne, der Vorstöße in Richtung Verbote für Muslime gutheißt oder leichtfertig hinnimmt, sollte sich darüber im Klaren sein, dass ein ausgehöhltes Grundgesetz auch seine Rechte schwächt – zunächst vielleicht unbemerkt, aber irgendwann trifft es jeden.
Gemeinsam können wir dafür sorgen, dass das einzigartige Rechtssystem unserer Gesellschaft so erhalten bleibt, dass das Versprechen, „der Staat ist die Heimstatt aller Bürger“ in Zukunft kein leeres Versprechen sein wird – wir sind dazu bereit, sind Sie es auch?
Aktionsbündnis muslimischer Frauen in Deutschland e.V.
Bundesweite unabhängige Vereinigung zur Verbesserung der gesellschaftlichen Partizipation muslimischer Frauen
Quellen:
(1)Urteil des Zweiten Senats vom 24. September 2003 – 2 BvR 1436/02 – http://www.isgg.de/UrteilBVerfG.pdf
(2)http://www.bmi.bund.de/cln_165/sid_6AA280503DE519C01158DA3345CBEC77/SharedDocs/Downloads/DE/Themen/Politik_Gesellschaft/DIK/handreichung_schulen_eltern.html?nn=103028